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Der Ethnographische Blick

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Ethnographie ist eine Methode in der Sozial- und Kulturanthropologie (und darüber hinaus), die sich sowohl auf das Sammeln von Daten durch langfristige (ethnographische) Feldarbeit als auch auf das Schreiben darüber in Form von systematischen, detaillierten Beschreibungen und Interpretationen bezieht. Eine Ethnographie versucht, die Koexistenz, die soziale und politische Organisation, die Lebensweise und das Weltbild einer Gesellschaft, einer Gruppe oder eines Individuums zu beschreiben und zu verstehen. Das Konzept des ethnographischen Blicks kann für Ihre Arbeit nützlich sein, wenn Sie gerne die Perspektive wechseln und es für Sie interessant erscheint, sich mit dem zu beschäftigen, was als das "Selbst" und was als "das Andere" verstanden wird. Wenn das der Fall ist, kann die Beschäftigung mit dem ethnographischen Blick bewusste Einsichten darüber liefern, wie es möglich ist, qualifizierte Aussagen über Gruppen und Einzelpersonen zu machen.

Geschichte des Begriffs…
Der ethnographische Ansatz hat sich in frühen Werken der Anthropologie und Soziologie herausgebildet. Der polnisch-britische Anthropologe Bronislaw Malinowski (1884-1942) gilt als Begründer der langfristigen ethnographischen Feldforschung. Seine Forschungen über die Trobriand-Inseln in Papa-Neuguinea haben ethnographische Berichte hervorgebracht, die auf dem langfristigen Eintauchen in einen bestimmten Ort oder eine bestimmte Gemeinschaft basieren und grundlegend für die anthropologische Forschung und das anthropologische Schreiben waren. Zeitgenossen (z.B. Franz Boas) und nachfolgende Generationen von Anthropolog*innen haben diese Methode und damit das Wesen dessen, was wir "Ethnographie" nennen, umgesetzt, weiterentwickelt und kritisch überdacht. Von besonderer Bedeutung sind die "writing culture" und die postkolonialen Debatten der 1980er Jahre (z.B. Clifford & Marcus 1986; Fabian 1983), in denen ethnographische Darstellungen sowohl als ethnozentrisch als auch als kolonial kritisiert wurden. Sie schlugen neue Formen "multivokalen" ethnographischen Schreibens vor, verschiedene Stimmen und Perspektiven einbeziehen. Diese Debatten haben Anthropolog*innen dazu veranlasst, ethnographische Berichte als Grundlage des anthropologischen Wissens kritisch zu überprüfen (z.B. Jackson 2013; Ingold 2014).
In der Soziologie sind ethnographische Ansätze in einigen Forschungstraditionen von Bedeutung gewesen, wie z.B. in der so genannten "Chicago-Schule" der 1920/1930er Jahre, in der Wissenschaftler*innen ethnographische Feldforschung im städtischen Umfeld durchführten, um Prozesse der Urbanisierung, Migration, Marginalisierung usw. zu erfassen.

a) Diskussion
Die Ethnographie beruht auf schriftlichen, deskriptiven und analytischen Berichten über bestimmte soziale Gruppen und Lebensweisen. Im Mittelpunkt steht die Frage, "was wirklich vor Ort passiert", was reale Menschen tun und sagen. Erkenntnistheoretisch gesehen bemühen sich Ethnograph*innen, das Fremde vertraut zu machen und umgekehrt - das Vertraute fremd (z.B. Eriksen 2015).  Fremdheit und Vertrautheit hängen vom Kontext ab (Schäffter 1991:12) und müssen daher immer reflexiv erforscht werden, wobei die relative Position des/der Beobachter*in berücksichtigt werden muss. Die bekannte Anthropologin Kirsten Hastrup argumentiert, dass Reflexivität für die ethnographische Sichtweise wesentlich ist, weil die Beziehung zwischen dem Selbst und dem Anderen die Grundlage für Exotisierung und Othering ist (Hastrup 1993:177). Der ethnographische Blick beruht auf einem ständigen Wechselspiel von Nähe und Distanz, in dem sich auch das Selbst verwandelt.
Während die frühen Ethnographen vor der Aufgabe standen, ungewohnte Schauplätze, Ereignisse, Alltagsroutinen und Lebensweisen zu verstehen, besteht bei der Ethnographie in Schulen oft das Problem einer zu großen Vertrautheit. Gerade weil Forscher*innen in genau den Institutionen, die sie erforschen, sozialisiert wurden, ist es oft äußerst schwierig, Erkenntnisse über Schulen als Bildungseinrichtungen zu gewinnen, die über ethnozentrische und vorgefertigte Vorstellungen von diesen Institutionen hinausgehen (Delamont und Atkinson 2018:71). Ein ethnographischer Ansatz, der das Geschehen in diesen vertrauten Umgebungen untersucht, als wäre es ungewohnt, bietet daher die Möglichkeit, aus einer anderen Perspektive zu reflektieren, und stellt somit ein einzigartiges und wertvolles Instrument für die Bildungsforschung dar.
Um diese reflexive Realität, die sowohl das Selbst als auch das Andere umgibt, wie das Wasser den Fisch umgibt, zu visualisieren, darf sich die Anthropologin nicht an ihr vertrautes Wissen gewöhnen, wie Sara Delamont in ihrer Einführung in die Methoden der Bildungsethnographie betont (Delamont 2002). Der ethnographische Blick bietet eine Möglichkeit, Distanz herzustellen. Durch diese Distanz bleibt die Reflexivität jeder sozialen Situation - also die Art und Weise, in der jede soziale Situation durch subjektive Einstellungen bestimmt wird, aber nicht auf diese reduziert werden kann - sichtbar.
Sara Delamont und Paul Atkinson warnen uns, dass die Vertrautheit vieler Bildungsforscher*innen mit ihrem Forschungsgegenstand ihren Blick einschränkt (Delamont und Atkinson 2018:71).
Einen ethnographischen Blick auf die Bildung zu werfen, bedeutet nicht, das "Fremde" und Spektakuläre (Exotische) um seiner selbst willen zu suchen, sondern das Selbstverständliche zu entfremden. Diese Haltung wiederum steht allen offen, die in der Lage sind, sich zwischen der Rolle des Praktikers und des Forschers zu bewegen und so in die Rolle des Lernanfängers zu schlüpfen, "ohne vorherige Erfahrung, ohne jegliche Anleitung" (Malinowski 2001:26).

b) Praktisches Beispiel
Sara Delamont (2018) gibt verschiedene Beispiele dafür, wie ein ethnographischer Blick, der das Vertraute fremd macht, in der Bildungsforschung eingesetzt werden kann. Sie empfiehlt, sich mit älteren Ethnographien vertraut zu machen, um ungewohnte Formen von Bildungssystemen kennen zu lernen, Minderheitenansichten einzubeziehen, wenn sie Teil der eigenen Identität sind, in ungewöhnlichen Schulen zu studieren oder ungewöhnliche Akteure in gewöhnlichen Schulen und in der informellen Bildung zu betrachten und neue theoretische Konzepte experimentell in das eigene Denken zu verknüpfen. All diese Strategien fördern den Prozess den eigenen Standpunkt zu hinterfragen, ungewöhnliche oder abweichende Meinungen und Erfahrungen wahrzunehmen und in das Gesamtbild zu integrieren.

Weiter denken

  • Welche Aspekte des Schulalltags halte ich für selbstverständlich, für völlig selbstverständlich und vertraut?
  • Was könnte ich lernen, wenn ich hinterfrage, "was wirklich vor sich geht", und versuche, eine neue Perspektive auf das zu gewinnen, was ich zu wissen glaube, was ich als selbstverständlich, was ich als selbstverständlich erachte oder was ich weiß, das verschwiegen werden muss?
  • Welches Verhalten erscheint aus dieser Perspektive "fremd" und wie kann es durch eine neue Wahrnehmung vertrauter werden?
  • Stellen Sie sich vor, Sie sind ein/e Anthropolog*in von einem anderen Kontinent oder Planeten usw., der in Ihrem (realen) Heimatland ethnographische Forschung in Ihrem Bildungssystem betreiben will. Wie würden Sie beschreiben, was hier vor sich geht? Vergessen Sie nicht, dass die Menschen in Ihrem Heimatland keine Vorstellungen über Ihren Forschungsort haben und Sie alles von Grund auf erklären müssen.

Stichwörter / Querverweise
Othering, Funds of Knowledge, Reflexivität

Quellen
Clifford, J., Marcus, G., (1986). Writing Culture. The Poetics and Politics of Ethnography. California University Press.

Delamont, S. (2002). Fieldwork in Educational Settings: Methods, Pitfalls and Perspectives (2). London: Routledge.

Delamont, S., Atkinson, P. (2018). „Communities of Practice and Pedagogy“. In Beach D., Bagley C., da Silva, S. M. The Wiley Handbook of Ethnography of Education. (71–89). Hoboken, New Jersey: John Wiley & Sons, Inc.

Eriksen, T.H. (2015). Small Places, Large Issues: An Introduction to Social and Cultural Anthropology (4). London: Pluto Press.

Fabian, J. (2014 [1983]). Time and the Other - How Anthropology makes its Object. Columbia University Press.

Hastrup, K. (1993). „The Native Voice - and the Anthropological Vision“. Social Anthropology, 1(2). (173–186).

Ingold, T. (2014). That's enough about ethnography! In HAU Journal of Ethnographic Theory, 4(1). (383-395).

Ingold, T. (2017). Anthropology and/as Education. London: Routledge.

Jackson, M. (2013). Lifeworlds: Essays in Existential Anthropology. Chicago: The University of Chicago Press.

Said, E. W. (2014). Orientalismus. Frankfurt am Main: Fischer.

Schäffter, O. (1991). Modi des Fremderlebens - Deutungsmuster im Umgang mit Fremdheit. In Schäffter, O. (Ed.) Das Fremde: Erfahrungsmöglichkeiten zwischen Faszination und Bedrohung. (11–42). Opladen: Westdeutscher Verlag.

Autor*innen: Clemens Schmid, Christa Markom, Jelena Tosic (Österreich)

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